Hirnaktivität bei Herzstillstand: Was passiert im Gehirn, wenn das Herz still steht?

Politik & Forschung

Zum Thema Gehirnaktivität bei Reanimationen sind Forscher weltweit einem uralten Rätsel auf der Spur: Was eigentlich im Gehirn passiert, wenn das Herz still steht. Wiener Mediziner arbeiten mithilfe des Wissenschaftsfonds FWF an einer internationalen Studie mit, die Gedächtnisprozesse bei Herzstillstand untersucht.

Wie lernen wir Sprachen, wie entstehen Gefühle und was passiert, wenn wir schlafen? Auf viele dieser hoch komplexen Fragen hat die Hirnforschung mithilfe moderner Methoden heute bereits Antworten parat. Die Forscher können die Funktionsweise des Gehirns immer besser erklären und damit wichtige Therapiefortschritte bei neurologischen Erkrankungen wie Schlafstörungen, Migräne, Schlaganfall oder Demenz erzielen. Und dennoch bleibt vieles offen und manches auch umstritten, wenn es um kognitive Fähigkeiten und damit verbunden schwer fassbare Begriffe wie Wahrnehmung, Bewusstsein oder Geist geht.

Erklärungsansatz für Nahtoderfahrungen – Wissenschaft ist den großen Rätseln auf der Spur

Ein Forschungsprojekt des Wissenschaftsfonds FWF will nun wissenschaftliche Fakten zu einem dieser noch immer ungelösten Rätsel liefern: Was passiert im Gehirn, wenn Menschen durch einen Herzstillstand an der Schwelle zum Tod stehen und nach ihrer Reanimation von Erinnerungen aus der Zeit des Herzstillstandes berichten? Diese äußerst seltenen, aber doch immer wieder auftretenden Berichte sind aus Sicht der Wissenschaft schwer verständlich. Bisher ging man davon aus, dass das Gehirn Sekunden nach Unterbrechung der Blutzufuhr seine elektrische Aktivität einstellt – Untersuchungen an Tieren zeigen nun aber ein ganz anderes Bild. US Forscher der University of Michigan haben bei Versuchen mit Ratten herausgefunden, dass – wider Erwarten – die Hirnaktivität nach einem Herzstillstand kurzzeitig stark ansteigt. Dabei weisen die gemessenen Hirnströme auffällig synchrone Muster von Gamma-Hirnwellen auf, ganz so als ob das Gehirn wach und extrem stimuliert wäre.

Daraus leiten die Forscher ab, dass das Gehirn im frühen Stadium des klinischen Todes zu gut organisierter elektrischer Aktivität fähig ist. Dieser Umstand wiederum könnte einen Erklärungsansatz für die zahllosen Schilderungen nach Nahtoderfahrungen liefern. Etwa jeder fünfte Überlebende eines Herzstillstands berichtet von Nahtoderfahrungen. Diese weltweit und bei verschiedenen Kulturen auftretenden Erlebnisse werden oft als extrem lebhaft, klar und ungewöhnlich reall geschildert.

Noch tappen die Forscher im Dunkeln, doch Projektleiter Roland Beisteiner ist überzeugt, dass es Erklärungen für derartige Erfahrungen gibt: „Bis jetzt gibt es keine detaillierten Nachweise von Hirnaktivität während der Reanimation, das heißt aber nicht, dass es nicht welche gibt“, so der Neurologe der Medizinischen Universität Wien. Denn immer mehr Daten, etwa von KomapatientInnen oder aus dem Bereich der Anästhesie, würden zeigen, dass das Gehirn hohe Kapazitäten besitzt, sich zu regenerieren und Informationen zu verarbeiten, ohne dass das von außen wahrnehmbar ist.

Daten von Gehirnströmen sammeln

„Wir brauchen möglichst viele solcher physiologischen Daten und eine bessere Kontrolle, was im Umfeld von Reanimationen passiert“, sagt Beisteiner. Diese sollen nun gemeinsam mit dem Neurowissenschafter Michael Berger und dem Notfallmediziner Fritz Sterz in der bereits laufenden internationalen Studie AWARE, die von dem in New York tätigen Notfallmediziner Sam Parnia koordiniert wird, erstmals erhoben werden. Bereits im Vorfeld waren die österreichischen Forscher an AWARE („AWAreness during REsuscitation“) beteiligt und haben Fragebögen von PatientInnen ausgewertet, die wieder „ins Leben zurückgeholt“ wurden. Als nächsten Schritt werden die Notfallstationen von medizinischen Zentren in den USA, Großbritannien und Österreich mit Sensoren zur Registrierung der Durchblutung und der elektrischen Aktivität des Stirnhirns ausgestattet. Aus Tierversuchen wissen die ForscherInnen, dass die Hirnaktivität bei Herzstillstand zwar rapide abfällt, aber zunächst für rund 30 Sekunden weiter messbar ist.

Eine kürzlich durchgeführte amerikanische Studie legt sogar nahe, dass das Gehirn für diese Zeit in eine Art Alarmzustand übergeht und Zeichen erhöhter Bewusstseinsaktivität zeigt. Das könnte eine Erklärung für die von einzelnen Patienten als „real“ empfundenen Erlebnisse während der vermeintlichen Bewusstlosigkeit sein. Auch für die – noch seltener – berichteten „außerkörperlichen Erfahrungen“ gibt es Erklärungen, denn die visuell-räumliche Wahrnehmung kann manipuliert werden, wie etwa Untersuchungen des in der Schweiz tätigen Neurologen Olaf Blanke belegen. „Blankes Versuche zeigen, dass wir das Gefühl eine Einheit darzustellen, manipulieren können“, sagt Beisteiner. „Das Gehirn scheint die Veranlagung zu haben, dass diese Integration von Raum und Körper gestört werden kann, sodass das Gefühl eines Heraustretens aus dem Körper entsteht“, so der Neurologe.

Wichtige Grundlagenforschung

Das dreijährige FWF-Projekt „Gedächtnisprozesse bei Herzstillstand-PatientInnen“ (2015–2018) soll nicht nur wissenschaftliche Fakten zur Diskussion eines umstrittenen Themas liefern, sondern künftig auch zur Verbesserung des technischen Ablaufes von Reanimationen beitragen. „Wir brauchen diese Forschung, um zu verstehen, was das Gehirn kann. Vor allem ist es für die Behandlung auch wichtig zu wissen, ob Patienten und Patientinnen etwas wahrnehmen, auch wenn es von außen nicht sichtbar ist“, betont Beisteiner.

Wissenschaftlicher Kontakt:

A.o. Univ.-Prof. Dr. Roland Beisteiner, MD,MA
Universitätsklinik für Neurologie
Medizinische Universität Wien
Währinger Gürtel 18-20, 1090 Wien
Telefon: +43 (0)1 40400 – 3408
Mail: roland.beisteiner(at)meduniwien.ac.at

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Quellen:

Ergebnisse der AWARE-Studie | Fachmagazin „Resuscitation“ „AWARE – AWAreness during REsuscitation – A prospective study“ (Sept. 2014)
Gehirn nach Herzstillstand hyperaktiv | n-tv.de

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