Durchbruch in der Alzheimer-Forschung: Forscher identifizieren tödlichen Protein-Komplex

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Ein Team von Neurowissenschaftlern unter Leitung von Prof. Dr. Hilmar Bading an der Universität Heidelberg hat gemeinsam mit Forschenden der Shandong-Universität in China einen molekularen Mechanismus identifiziert, der entscheidend zum Fortschreiten der Alzheimer-Krankheit beiträgt.

Die Ergebnisse, in der Fachzeitschrift Molecular Psychiatry veröffentlicht, könnten langfristig völlig neue Ansätze zur Behandlung neurodegenerativer Erkrankungen eröffnen. Für Patientinnen und Patienten bedeutet dieser Durchbruch allerdings vorerst noch keine unmittelbare therapeutische Konsequenz.

Ein tödlicher Komplex im Nervensystem

Im Zentrum der Entdeckung steht ein Protein-Protein-Komplex, der das Überleben von Nervenzellen gefährdet: der NMDAR/TRPM4-Komplex.

Er besteht aus zwei bekannten Komponenten: den NMDA-Rezeptoren, die auf der Oberfläche von Nervenzellen sitzen und eine zentrale Rolle bei der Signalübertragung spielen, sowie dem Ionenkanal TRPM4.

Werden diese beiden Partner außerhalb der Synapsen aktiviert, entsteht ein hochgefährlicher „Todeskomplex“, der Nervenzellen überlastet, Mitochondrien – die „Kraftwerke“ der Zelle – schädigt und schließlich programmierten Zelltod auslöst. Forschende um Prof. Bading zeigen, dass dieser Komplex im Alzheimer-Mausmodell deutlich häufiger auftritt und maßgeblich zum Abbau kognitiver Fähigkeiten beiträgt.

Von der Grundlagenforschung zur potenziellen Therapie

Dass der NMDAR/TRPM4-Komplex eine Schlüsselfunktion bei Alzheimer einnimmt, belegt ein neu entwickelter pharmakologischer Ansatz: das Molekül FP802, ein sogenannter „TwinF Interface Inhibitor“. FP802 bindet an die Kontaktfläche, über die TRPM4 und NMDA-Rezeptoren miteinander interagieren, und blockiert diese Verbindung. Der toxische Komplex wird dadurch gewissermaßen zerlegt.

Die Folgen im 5xFAD-Alzheimer-Mausmodell waren bemerkenswert: Der Verlust von Synapsen wurde abgeschwächt, strukturelle Schäden und Funktionsverluste in den Mitochondrien traten kaum auf, und kognitive Leistungen wie Lernen und Gedächtnis blieben erhalten.

Selbst die für Alzheimer charakteristischen Beta-Amyloid-Ablagerungen im Gehirn gingen deutlich zurück. „Das Fortschreiten der Erkrankung konnte bei den behandelten Tieren signifikant verlangsamt werden“, berichtet Dr. Jing Yan, Erstautor der Studie und mittlerweile bei FundaMental Pharma tätig, einer Ausgründung des IZN zur Weiterentwicklung des Moleküls.

Warum dieser Ansatz anders ist

Bisher richten sich die meisten Alzheimer-Therapien auf Beta-Amyloid: Sie sollen die Entstehung von Plaques verhindern oder bestehende Ablagerungen beseitigen.

Der neue Ansatz setzt dagegen nachgeschaltet an – bei einem zellulären Mechanismus, der direkt zum Nervenzelltod beiträgt und zugleich in einer krankheitsverstärkenden Rückkopplung die Amyloid-Bildung anheizen kann.

Indem FP802 die schädliche Interaktion zwischen NMDAR und TRPM4 unterbindet, werden gleich zwei Ebenen adressiert: das Überleben der Nervenzellen und die Dynamik der Pathologie.

Potenzial über Alzheimer hinaus

Der NMDAR/TRPM4-Komplex ist nicht nur bei Alzheimer relevant. In Vorgängerstudien zeigte das Team um Bading vergleichbare neuroprotektive Effekte von FP802 in Krankheitsmodellen der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS). Das weckt die Hoffnung auf ein breit anwendbares Wirkstoffprinzip, das bei mehreren neurodegenerativen Erkrankungen das Fortschreiten bremsen oder sogar aufhalten könnte.

Was das für zukünftige Therapien bedeuten könnte

Sollte sich das Konzept in weiteren Studien bestätigen, ergeben sich mehrere therapeutische Perspektiven:

1) Neue Zielstruktur: Der NMDAR/TRPM4-Komplex etabliert sich als valide drug target. Pharmazeutische Programme könnten verschiedene „Interface-Inhibitoren“ entwickeln, die die Protein-Protein-Interaktion selektiv stören, ohne die physiologisch wichtige synaptische NMDA-Signalgebung zu beeinträchtigen.
2) Kombinationstherapien: Interface-Inhibitoren ließen sich perspektivisch mit Amyloid-gerichteten oder tau-gerichteten Therapien kombinieren. Ziel wäre, sowohl die treibenden pathologischen Kaskaden (Amyloid/Tau) als auch die zellulären Todesprogramme abzufangen – ein zweigleisiger Ansatz, der in anderen Bereichen der Medizin (z. B. Onkologie) bereits etabliert ist.
3) Biomarker-gestützte Entwicklung: Falls sich bildgebende oder molekulare Marker für die NMDAR/TRPM4-Aktivität finden lassen, könnten künftige Studien die richtige Dosis, Patientenselektion und Behandlungseffekte präziser steuern. Das wäre entscheidend, um „Responder“ frühzeitig zu identifizieren und unnötige Exposition zu vermeiden.
4) Krankheitsmodifikation statt rein symptomatischer Effekte: Die Erhaltung von Synapsen und mitochondrialer Funktion im Mausmodell deutet auf krankheitsmodifizierende Potenziale hin – also nicht nur Linderung von Symptomen, sondern Eingriff in die zugrunde liegende Neurodegeneration.

Warum Betroffene vorerst noch keinen direkten Nutzen haben

Trotz aller Hoffnung gilt: Für die klinische Versorgung heute lebender Patientinnen und Patienten lässt sich aus den Befunden noch kein unmittelbarer Nutzen ableiten.

Dafür gibt es mehrere Gründe:

Präklinischer Status: Die dargestellten Effekte wurden im Mausmodell beobachtet. Ergebnisse aus Tierstudien lassen sich nicht automatisch auf den Menschen übertragen.
Pharmakologische Optimierung: FP802 muss hinsichtlich Stabilität, Bioverfügbarkeit, Blut-Hirn-Schranken-Passage und Abbauwegen optimiert werden. Solche „Lead-Optimization“-Schritte können Jahre in Anspruch nehmen und führen nicht selten zu strukturell veränderten Nachfolgekandidaten.
Sicherheitsprofil: Bevor ein Wirkstoff Menschen verabreicht wird, sind umfassende toxikologische Untersuchungen in mindestens zwei Spezies nötig. Erst wenn diese Sicherheitssignale positiv sind, kann eine klinische Erprobung beginnen.
Klinische Studienphasen: Von Phase I (Sicherheit, Verträglichkeit) über Phase II (Dosis, erste Wirksamkeitssignale) bis Phase III (Nachweis der klinischen Wirksamkeit in großen Kollektiven) vergeht in der Regel viel Zeit. Selbst bei optimalem Verlauf kann der Weg zur Zulassung deutlich über ein Jahrzehnt dauern.
Regulatorische Hürden und Vergleichstherapien: Neue Alzheimer-Therapien müssen Wirksamkeit gegenüber Placebo und zunehmend auch gegenüber zugelassenen Standardtherapien zeigen. Das erhöht die Anforderungen an Studiendesign, Stichprobengröße und Nachbeobachtungsdauer.

Bedeutung für die Alzheimer-Forschung

Ungeachtet der noch ausstehenden klinischen Entwicklung ist die wissenschaftliche Bedeutung der Arbeit groß.

Sie rückt intrazelluläre Signalwege in den Fokus, die durch fehlgeleitete Protein-Protein-Interaktionen zum Zelltod führen, und ergänzt damit die bisherige Dominanz der Amyloid- und Tau-Hypothesen.

Daraus ergeben sich forschungspraktische Konsequenzen:

Neue Screening-Plattformen: Assays, die gezielt die NMDAR/TRPM4-Interaktion messen, können als Screening-Basis für weitere Interface-Inhibitoren dienen.
Translationaler Werkzeugkasten: Strukturbiologische Daten zu Bindetaschen und Kontaktflächen helfen, die chemische Leitstruktur zu verfeinern und die Selektivität gegenüber physiologischer NMDA-Signalgebung zu sichern.
Modellübergreifende Prüfung: Neben 5xFAD sollten weitere Tiermodelle sowie humane iPSC-Neuronen eingesetzt werden, um Reproduzierbarkeit, Dosis-Wirkungs-Beziehungen und potenzielle Off-Target-Effekte abzuklären.

Einordnung im Kontext der aktuellen Therapielandschaft

In den letzten Jahren wurden mehrere antikörperbasierte Amyloid-Therapien mit unterschiedlichem Nutzen-Risiko-Profil diskutiert. Der NMDAR/TRPM4-Ansatz verfolgt eine komplementäre Strategie: Er adressiert zelluläre Schadensprozesse, die unabhängig von der reinen Amyloid-Belastung zum neuronalen Funktionsverlust beitragen können. Daraus ergeben sich drei mögliche Szenarien für die künftige Versorgung:
Monotherapie in definierten Subgruppen: Falls Biomarker eine hohe NMDAR/TRPM4-Aktivität anzeigen, könnten Interface-Inhibitoren als eigenständige Option geprüft werden.
Add-on zu krankheitsmodifizierenden Therapien: Kombinationen könnten additive oder synergistische Effekte erzielen – etwa bessere Erhaltung der Synapsenfunktion bei gleichzeitigem Amyloid-Abbau.
Frühe Intervention: Wenn Sicherheitsdaten günstig sind, wäre eine Prüfung in frühen Stadien (MCI aufgrund von Alzheimer-Pathologie) denkbar, um den Übergang zur Demenz zu verzögern.

Risiken und offene Fragen

Jede neue Zielstruktur bringt Ungewissheiten mit sich. Wichtige Punkte, die geklärt werden müssen, sind:
Langzeit-Sicherheit: Wie wirkt sich eine dauerhafte Hemmung der NMDAR/TRPM4-Interaktion auf die physiologische neuronale Funktion aus, insbesondere außerhalb der Synapsen?
Selektivität: Interface-Inhibitoren müssen schädliche extrasynaptische Signale unterbinden, ohne die protektive synaptische NMDA-Aktivität zu beeinträchtigen. Ein zu breites „Abschalten“ könnte Lern- und Gedächtnisprozesse schwächen.
Übertragbarkeit: Effekte im 5xFAD-Mausmodell sind ermutigend, aber humane Pathophysiologie ist komplexer. Unterschiede in Glutamat-Homöostase, Mikroglia-Aktivierung und vaskulären Faktoren können die Wirksamkeit beeinflussen.
Interaktionen und Begleitmedikation: Potenzielle Wechselwirkungen mit bestehenden Alzheimer-Medikamenten (z. B. Cholinesterase-Hemmern) und kardiovaskulären Arzneien müssen sorgfältig geprüft werden.

Alzheimer – warum der Bedarf an neuen Optionen so hoch ist

Alzheimer ist die häufigste Demenzform und betrifft weltweit Dutzende Millionen Menschen. Allein im deutschsprachigen Raum sind Hunderttausende betroffen – mit steigender Tendenz aufgrund der demografischen Entwicklung.

Jede Therapie, die den kognitiven Abbau verlangsamt oder den Alltag länger stabil hält, hätte enormen individuellen und volkswirtschaftlichen Nutzen. Genau hier setzt die Hoffnung auf Interface-Inhibitoren wie FP802 an: Sie könnten wichtige Nervenzellfunktionen bewahren, bevor irreversible Schäden entstehen.

Förderung und internationale Zusammenarbeit

Die Forschungsarbeiten wurden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), dem Europäischen Forschungsrat (ERC), dem damaligen Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), der Chinesischen Nationalen Stiftung für Naturwissenschaften sowie der Provinz Shandong unterstützt.

Die breite Förderung und der bi-nationale Ansatz unterstreichen die Relevanz des Vorhabens und beschleunigen die Überführung grundlegender Erkenntnisse in ein translationales Entwicklungsprogramm.

Fazit: Ein Hoffnungsschimmer – aber Geduld ist gefragt

Mit der Identifikation des NMDAR/TRPM4-Komplexes als zentralem Motor des Nervenzellsterbens im 5xFAD-Mausmodell liefern die Forschenden einen entscheidenden Puzzlestein der Alzheimer-Pathophysiologie.

Der Ansatz, die Protein-Protein-Interaktion pharmakologisch zu blockieren, öffnet eine neue therapeutische Spur, die sich mit bestehenden Strategien kombinieren lässt.

Für Betroffene bleibt die Botschaft allerdings zweigeteilt: große Perspektive für die Zukunft, aber vorerst kein unmittelbarer Nutzen.

Bis zur möglichen Anwendung beim Menschen sind pharmakologische Optimierung, umfangreiche Sicherheitsprüfungen und mehrere Phasen klinischer Studien erforderlich – ein Prozess, der Zeit braucht, aber das Potenzial hat, die Behandlung neurodegenerativer Erkrankungen grundlegend zu verändern.

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Quelle:

¹ The NMDAR/TRPM4 death complex is a major promoter of disease progression in the 5xFAD mouse model of Alzheimer’s disease. (J. Yan, X. Yang, G. Li, O. A. Ramirez, A. M. Hagenston, Z.-Y. Chen, H. Bading in Molecular Psychiatry; 26 August 2025), https://doi.org/10.1038/s41380-025-03143-5
² Die Struktur von Nervenzellen als therapeutisches Angriffsziel bei der Alzheimer-Krankheit (Forschungsprojekt Prof. Dr. Marco Rust; Philipps-Universität Marburg)
³ www.deutschesgesundheitsportal.de

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