Laut dem Wiener Anton Proksch Institut sind aktuell etwa zwei Prozent der Gesamtbevölkerung und vier bis sechs Prozent der jungen Menschen von Online-Sucht betroffen. Bei den Betroffenen der Online-Sucht mit Internet, Gaming und Social Media nimmt die Beschäftigung mit diesen Medien im Alltag einen immer größeren Anteil ein, führt zur Vernachlässigung der realen Lebenswelt, zu Isolation und Problemen mit Partnerschaften, Beruf und Ausbildung. Wissenschafter der Pädagogischen Hochschule Heidelberg haben nun ein Programm entwickelt, das die Internetsucht und die Computerspielabhängigkeit bei Jugendlichen erstmals signifikant reduziert.
Online-Spielsucht von WHO offiziell als Krankheit anerkannt
Immer besserer Zugang zu immer schnellerem Internet und die Verfügbarkeit von Smartphones und Tablets für immer jüngere Kinder bieten einerseits viele Chancen, bergen aber auch enorme Gefahren. Denn bei mangelndem Problembewusstsein, vor allem der Eltern, droht rasch eine Abhängigkeit. Das Suchtpotenzial vieler Computerspiele und Sozialen Medien ist jedenfalls enorm und werde oft unterschätzt, meint jedenfalls der Suchtexperte Dr. Korusch Yazdi, Primar des Zentrums für Suchtmedizin an der Linzer Kepler-Klinik.
Die Fallzahl der Internetsüchtigen dürfte steigen, das betonen Experten unisono und berufen sich dabei auf ihre Erfahrung. Denn aktuelle Studien gibt es in Österreich nicht, die letzte stammt aus 2013 (Stand Juni 2018) und weist vier Prozent der 15- bis 18-Jährigen als „internetsüchtig“ aus. Das wären ca. 30.000 betroffene Jugendliche.
Die offenbar steigende Zahl dokumentierter Fälle haben die Weltgesundheitsorganisation (WHO) jedenfalls dazu veranlasst exzessives Computer- oder Videospielen nunmehr als Krankheit („Gaming Disorder“) zu klassifizieren. Sie ist seit Juni 2018 hinter Glücksspielsucht im neuen Katalog der Krankheiten (ICD-11) gelistet.
Studie untersucht Internetsucht
Die Aufnahme in den neuen WHO-Katalog der Krankheiten ist unter Wissenschaftern keinesfalls unumstritten, denn sie könnte zu einem Dammbruch werden, der das Risiko in sich birgt, dass solche Diagnosen missbraucht werden. Gemeint ist der Umstand, dass dann von Handy-Sucht bis Social-Media-Depression vieles als eigenständige ‚Medien‘-Krankheit denkbar wäre und in Folge zahlreiche Kinder, Jugendliche und Erwachsene per Definition von heute auf morgen therapiebedürftig wären. Viele Mediziner weisen darauf hin, dass eher die der Sucht zugrunde liegende Probleme wie Depression oder soziale Angststörungen behandelt werden müssten.
Hintergrund der Uneinigkeit ist zweifelsohne die nach wie vor spärliche Datengrundlage zu diesem Thema.
Deshalb haben nun die Wissenschafter der Pädagogischen Hochschule Heidelberg eine repräsentative Studie durchgeführt. Demnach sind rund sechs Prozent der befragten Jugendlichen in der Metropolregion Rhein-Neckar Internet- oder Computerspielsüchtig. „Die betroffenen Jugendlichen ziehen sich häufig zurück und vernachlässigen Freunde, frühere Hobbies und schulische Pflichten. Die Leistungsfähigkeit nimmt ab, die Konflikte mit Angehörigen und Lehrkräften nehmen zu. Ihre Lebensqualität wird maßgeblich beeinträchtig“, erklärt Junior-Professorin Dr. Katajun Lindenberg, Leiterin der Studie.
Die Prävention von Internet- und Computerspielabhängigkeit ist folglich von hoher gesundheitspolitischer Relevanz.
PROTECT: Programm gegen Internetsucht
Um den betroffenen Schülerinnen und Schülern Hilfe zukommen zu lassen, hat das Team um Lindenberg das Programm „Professioneller Umgang mit technischen Medien“ (kurz: PROTECT) entwickelt. „Unser Ziel ist es nicht, den Internetgebrauch an sich zu verändern; das würde völlig an der Lebensrealität der Jugendlichen vorbeigehen. Uns geht es vielmehr darum, den schädlichen, exzessiven Umgang mit Online-Angeboten zu verhindern. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass er trotz negativer Konsequenzen fortgeführt wird, dass er mit einer verminderten Kontrolle über das Spielen einhergeht und dass die Internetaktivität Vorrang vor allen anderen Interessen und alltäglichen Tätigkeiten hat“, so Lindenberg.
Den Schulen kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu und PROTECT richtet sich daher auch primär an Schülerinnen und Schüler ab der 7. Klasse: Jugendliche, die ein erhöhtes Risiko für eine Internet- oder Computerspielsucht zeigen, erhalten dabei ein psychologisch-verhaltenstherapeutisches Training, das in vier Doppelstunden von geschulten Psychologinnen bzw. Psychologen durchgeführt wird. „Unser Programm wurde anhand aktueller Forschungsbefunde zur Internetsucht entwickelt und beinhaltet evidenzbasierte, verhaltenstherapeutische Techniken, die sich in der Prävention von psychischen Auffälligkeiten wie Ängsten, Depressionen, Suchterkrankungen oder Essstörungen als wirksam erwiesen haben“, sagt die Leiterin der Studie.
Durch das PROTECT-Training wird eine signifikante Reduktion der Kernsymptomatik – also beispielsweise mangelnde Kontrolle über den Konsum oder Fortsetzung des Spielens trotz negativer Folgen – erzielt, die nachhaltig anhält. PROTECT ist international das erste Programm zur indizierten Prävention von Internet- und Computerspielabhängigkeit mit diesem Effekt. Darüber hinaus trägt PROTECT auch zu einer leichten Verbesserung depressiver Symptome bei, die häufig mit einer Internet- oder Computerspielsucht einhergehen.
Die Wissenschaftlerinnen haben ihr Präventionsprogramm bereits weiterentwickelt: So wird in Kooperation mit regionalen Beratungsstellen und dem Zentrum für psychologische Psychotherapie der Universität Heidelberg zum Beispiel ein Gruppentraining für Betroffene außerhalb der Schule angeboten. Das Programm wurde ferner an die Bedürfnisse von Kindern der Klasse 3 bis 5 angepasst und steht diesen seitdem ebenfalls zur Verfügung. Um den pathologischen Internetgebraucht überhaupt erfassen zu können, wurde in Kooperation mit Wissenschaftlern des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsens und des Universitätsklinikums Lübeck außerdem ein entsprechendes diagnostisches Interview entwickelt und umgesetzt.
In den nächsten fünf Jahren soll das Präventionsprogramm zudem im Rahmen des Projekts „TRANSFER TOGETHER – Bildungsinnovationen in der Metropolregion Rhein-Neckar“ der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und der Metropolregion Rhein-Neckar GmbH einer breiteren Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden. Darüber hinaus sollen Schulen der Metropolregion Rhein-Neckar – in Zusammenarbeit mit der Hopp Foundation – auch zukünftig die Möglichkeit erhalten, PROTECT-Workshops durchzuführen. Die Wissenschaftlerinnen der Pädagogischen Hochschule Heidelberg arbeiten ferner an einem Präventionsprogramm gegen Depressionen, das auf PROTECT aufbaut.
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Quelle:
Wirksamkeit eines kognitiv-verhaltenstherapeutischen Trainings zur indizierten Prävention von Internetbezogenen Störungen (Jun.-Prof. Dr. Katajun Lindenberg; Sophie Kindt, M.Sc.; Carolin Szàsz-Janocha; 2018).PROTECT Wirksamkeitsstudie
Die Studie „Wirksamkeit eines kognitiv-verhaltenstherapeutischen Trainings zur indizierten Prävention von Internetbezogenen Störungen“ wurde zwischen 2015 und 2018 an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg durchgeführt. Die Leitung der Studie oblag Junior-Professorin Dr. Katajun Lindenberg (Institut für Psychologie). Es wurden zunächst über 5.000 Schülerinnen und Schüler von rund 40 Schulen in der Metropolregion Rhein-Neckar zu ihrem Online-Verhalten befragt. 480 Jugendliche zwischen 11 und 20 Jahren, die im Screening ein erhöhtes Risiko für eine Internet- oder Computerspielsucht zeigten, nahmen dann freiwillig an dem PROTECT-Programm teil (Interventionsgruppe: n=208; Kontrollgruppe: n=272). Das heißt, sie absolvierten über zwölf Monate hinweg in Kleingruppen von sechs bis zehn Jugendlichen insgesamt vier Module – beispielsweise zur Emotionsregulation oder Prokrastination – und wurden insgesamt viermal wissenschaftlich befragt. Die Wirksamkeitsstudie zeigt eine signifikante Reduktion der Kernsymptomatik sowie eine leichte Verbesserung depressiver Symptome. Das Programm ist für andere Altersgruppen oder Settings adaptierbar und wird auch zukünftig weiterentwickelt werden.
Linktipps:
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