Wie eine aktuelle Studie der Technischen Universität München (TUM) zeigt verstehen 75 Prozent der Erwachsenen Gesundheitsinformationen nicht. Warum das auch Österreich betrifft – und was jetzt zu tun ist.
Gesundheitsinformationen sind allgegenwärtig. In Apotheken liegen Broschüren, im Fernsehen laufen Kampagnen, und mit wenigen Klicks findet man im Internet alles über Krankheiten, Therapien und Medikamente.
Doch eine aktuelle Studie der Technischen Universität München (TUM) zeigt: Drei Viertel der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland haben große Schwierigkeiten, diese Informationen richtig einzuordnen und anzuwenden.
Was auf den ersten Blick wie ein deutsches Problem wirkt, ist für Österreich hochrelevant. Denn die zugrundeliegenden Faktoren – Bildungslücken, eine fragmentierte Informationslandschaft, mangelnde institutionelle Unterstützung – sind hierzulande ebenso bekannt.
Der aktuelle Befund liefert damit auch einen Weckruf für die österreichische Gesundheitspolitik.
Mangelhafte Gesundheitskompetenz: Was zeigt die Studie konkret?
Die Studie der TUM entstand in Kooperation mit dem WHO Collaborating Centre for Health Literacy sowie der „Apotheken Umschau“. Befragt wurden 2.000 Personen ab 18 Jahren, repräsentativ für die deutsche Bevölkerung.
Dabei zeigte sich, dass 75,8 Prozent der Befragten erhebliche Probleme damit haben, Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und für ihr eigenes Leben anzuwenden. Das ist ein dramatischer Anstieg im Vergleich zu 2014, als der Anteil noch bei 54,3 Prozent lag.
Besonders alarmierend: Die jüngeren Altersgruppen schnitten schlechter ab als ältere. Menschen über 60 wiesen eine signifikant höhere Gesundheitskompetenz auf. Auch regionale Unterschiede wurden deutlich: In Ostdeutschland schnitten die Befragten besser ab als in Westdeutschland.
Bemerkenswert ist zudem, was keinen Unterschied machte: Bildungsabschluss, Einkommen, Migrationshintergrund und Geschlecht spielten laut der Studie keine signifikante Rolle für die Gesundheitskompetenz. Das widerspricht gängigen Annahmen und zeigt, wie tief das Problem strukturell verankert ist.
Was ist Gesundheitskompetenz überhaupt?
Gesundheitskompetenz – oder „Health Literacy“ – beschreibt die Fähigkeit, Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, kritisch zu bewerten und für Entscheidungen im Alltag zu nutzen. Das betrifft nicht nur akute Krankheitsfälle, sondern auch Vorsorge, gesunden Lebensstil, den Umgang mit chronischen Erkrankungen und die Nutzung des Gesundheitssystems.
Wer nicht versteht, wann ein Arztbesuch notwendig ist, wie man einen Medikamentenplan einhält oder was Vorsorgeuntersuchungen bringen, hat schlechtere Gesundheitschancen. Studien zeigen: Menschen mit niedriger Gesundheitskompetenz sind öfter krank, nehmen medizinische Leistungen ineffizient in Anspruch und belasten damit das Gesundheitssystem.
Grsellschaftliche Kosten durch mangelnde Kompetenz
Laut WHO-Schätzungen verursachen Menschen mit geringer Gesundheitskompetenz bis zu fünf Prozent der Gesundheitsausgaben. In Deutschland wären das bis zu 24 Milliarden Euro pro Jahr.
Diese Kosten entstehen durch vermeidbare Krankenhausaufenthalte, unnötige Notfallbesuche und mangelhafte Therapietreue.
Auch für Österreich ist anzunehmen, dass ein erheblicher Teil der Gesundheitsausgaben auf Informationsdefizite zurückgeht.
Eine ähnliche Untersuchung wie die TUM-Studie fehlt hierzulande zwar, aber Studien zur allgemeinen Lesekompetenz oder zu digitalen Fähigkeiten zeigen, dass viele Österreicherinnen und Österreicher ebenfalls Mühe mit komplexen Informationen haben – auch im Gesundheitsbereich.
Laut einer Erhebung der Statistik Austria besitzen etwa 40 Prozent der Erwachsenen in Österreich lediglich ein mittleres oder niedriges Leseverständnis. Bei digitalen Kompetenzen liegt Österreich laut OECD-Studien im unteren Drittel europäischer Länder.
Diese Schwächen schlagen sich auch im Gesundheitsverhalten nieder: Österreich liegt bei der Inanspruchnahme präventiver Leistungen wie Impfungen oder Vorsorgeuntersuchungen deutlich hinter anderen Ländern.
Was bedeutet das für Österreich konkret?
Die Bildungssituation in Österreich ist seit Jahren Gegenstand intensiver Diskussionen. Pisa-Studien zeigen immer wieder, dass besonders Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Haushalten im internationalen Vergleich zurückfallen.
Wenn bereits grundlegende Lesekompetenz fehlt, wird es schwierig, medizinische Fachbegriffe oder Informationen zur Krankheitsprävention zu verstehen.
Dazu kommt die Digitalisierung. Der Zugang zu Gesundheitsinformationen erfolgt heute großteils digital – über Webseiten, Apps, Videos oder soziale Medien.
Wer digitale Angebote nicht nutzen kann oder sich in dieser Landschaft nicht zurechtfindet, hat es schwer. Rund 28 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher nutzen laut einer Erhebung der Arbeiterkammer digitale Gesundheitsdienste gar nicht. Die Gründe reichen von fehlendem Vertrauen bis zu Verständnisschwierigkeiten.
Was sagt die Praxis?
Auch Fachkräfte im Gesundheitswesen berichten regelmäßig, dass viele Patientinnen und Patienten überfordert sind, wenn sie medizinische Informationen erhalten – sei es in Form von Arztbriefen, Medikationsplänen oder durch digitale Anwendungen.
„Viele der Patienten sind überfordert, wenn sie Arztbriefe oder Medikationspläne lesen müssen. Oft erklären wir mehrfach, was ein Laborwert bedeutet oder wie Medikamente eingenommen werden sollen. Manche schämen sich, Fragen zu stellen.“
Auch in Pflegeberufen ist das Thema präsent. „Gerade ältere Menschen haben oft Angst, etwas falsch zu machen. Wir versuchen, einfache Sprache zu verwenden, aber der Informationsdruck ist hoch. Broschüren, Apps, TV-Beiträge – alles will gleichzeitig informieren. Am Ende bleibt oft Verwirrung.“
Dies sind typische Zitate aus dem Spitals- und Pflebereich.
In einer Erhebung des österreichischen Fonds Gesundes Österreich gaben 65 Prozent der befragten Ärztinnen und Ärzte an, dass Patientinnen und Patienten Schwierigkeiten beim Verständnis von Gesundheitsinformationen haben (Quelle: FGÖ, Gesundheitskompetenz bei Erwachsenen, 2021).
Ähnliche Einschätzungen liefert die Studie „Health Literacy Population Survey 2019-2021“ der WHO Europe, an der auch Österreich teilnahm. Dort wird deutlich, dass viele Menschen mit Gesundheitsinformationen überfordert sind – insbesondere dann, wenn es um digitale Gesundheitsdienste oder die Bewertung widersprüchlicher Informationen geht (Quelle: WHO Europe, HL-Pop-2021).
10 Punkte für mehr Kompetenz
Die Studienautoren in Deutschland haben zehn Forderungen formuliert, wie die Gesundheitskompetenz verbessert werden kann.
Diese könnten auch als Vorlage für Österreich dienen:
1. Gesundheitsbildung muss früh beginnen – im Kindergarten und in der Schule.
2. Kinder und Jugendliche brauchen gezielte Medienkompetenz-Schulungen.
3. Werbung für ungesunde Lebensmittel und Influencer-Marketing sollte reguliert werden.
4. Gesundheitsberufe sollten in moderner Kommunikation geschult werden.
5. Die digitale Gesundheitskompetenz muss für alle gestärkt werden.
6. Orientierung im Gesundheitssystem braucht barrierearme Kommunikation und Lotsen.
7. Auch Institutionen wie Spitäler müssen gesundheitskompetent handeln.
8. Am Arbeitsplatz sollten Programme zur Gesundheitsbildung etabliert werden.
9. Psychische Gesundheit braucht mehr Sichtbarkeit in der öffentlichen Kommunikation.
10. Gesundheitskompetenz muss in allen Politikfeldern mitgedacht werden („Health Literacy in all Policies“).
Worauf es jetzt ankommt
Für Österreich bedeutet das: Wir brauchen ein gesamtgesellschaftliches Projekt, um Gesundheitskompetenz zu fördern. Das kann nicht allein Aufgabe des Gesundheitsministeriums sein.
Schulen, Medien, Unternehmen, Sozialpartner, die Wissenschaft und vor allem auch die Kommunen sind gefordert.
Ein erster Schritt wäre, selbst eine umfassende Studie zur Gesundheitskompetenz in Österreich in Auftrag zu geben. Denn ohne Daten gibt es keine gezielte Strategie.
Parallel sollten Kampagnen gestartet werden, die sich an schwer erreichbare Gruppen richten: Menschen mit geringer Lesekompetenz, ältere Personen, Personen mit chronischen Erkrankungen, Menschen mit Behinderung oder in prekären Lebenslagen.
Was Österreich bereits tut – und was fehlt
Einzelne Initiativen zur Förderung der Gesundheitskompetenz existieren bereits. So bietet die „Gesundheitskompetente Schule“ in mehreren Bundesländern Workshops für Lehrkräfte an. Die staatliche Plattform „gesundheit.gv.at“ liefert geprüfte Informationen in einfacher Sprache. Krankenkassen fördern Projekte zur Patientenschulung.
Risiken durch Desinformation im Netz: Wo Österreich besonders gefordert ist
Doch die Herausforderung wächst – insbesondere durch Fehlinformationen im Internet. Laut einer Studie der MedUni Wien (2022) glauben rund 30 Prozent der österreichischen Bevölkerung an zumindest eine gesundheitsbezogene Verschwörungstheorie.
Die Covid-19-Pandemie hat gezeigt, wie rasch sich falsche medizinische Inhalte über soziale Medien verbreiten und das Verhalten der Menschen beeinflussen können. Besonders gefährdet sind laut der gleichen Studie Menschen mit niedriger Gesundheits- und Medienkompetenz.
Daher braucht es mehr staatlich geprüfte Informationsangebote, die digital gut auffindbar und für alle verständlich sind – sowie eine stärkere Zusammenarbeit zwischen öffentlicher Hand, Medien und Bildungseinrichtungen im Kampf gegen Gesundheitsdesinformation.
Doch das reicht nicht aus. Es fehlt an Koordination, Finanzierung und einer nationalen Gesamtstrategie. Ein österreichweiter Masterplan Gesundheitskompetenz – ähnlich wie in Bayern geplant – könnte diese Lücke schließen. Wichtig wäre dabei auch die Einbindung von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die vulnerable Gruppen erreichen.
Ein österreichweiter Masterplan Gesundheitskompetenz – ähnlich wie in Bayern geplant – könnte diese Lücke schließen. Wichtig wäre dabei auch die Einbindung von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die vulnerable Gruppen erreichen.
Gesundheit ist mehr als Medizin
Wie Prof. Orkan Okan von der TUM betont, beginnt Gesundheitskompetenz nicht im Wartezimmer, sondern im Klassenzimmer.
Es geht um Alltagswissen, um Orientierung, um die Fähigkeit, zu hinterfragen, aber auch zu vertrauen. In Zeiten von Fake News, Verschwörungstheorien und algorithmisch gesteuerter Information braucht es mehr denn je Menschen, die kritisch denken und sich auf Fakten verlassen können.
Auch Prof. Kai Kolpatzik vom Wort & Bild Verlag betont die Dringlichkeit: „Die aktuelle Studie ist ein Weckruf. Jetzt ist der Zeitpunkt, politisch die richtigen Weichen zu stellen.“ Und Claudia Küng von Health Care Bayern bringt es auf den Punkt: „Gesundheitskompetenz bedeutet auch, zu wissen, wann man wirklich krank ist – und wann nicht.“
Fazit: Gesundheit braucht Verständnis
Die neue Studie zur Gesundheitskompetenz zeigt ein Problem, das längst überfällig ist, ernst genommen zu werden. Die Konsequenzen betreffen nicht nur Individuen, sondern auch das Gesundheitssystem und die öffentlichen Haushalte. Für Österreich heißt das: Nicht abwarten, sondern handeln. Denn Gesundheit beginnt mit Verstehen.
——-
Quellen:
¹ Fonds Gesundes Österreich (2021): Gesundheitskompetenz bei Erwachsenen in Österreich nach Bundesländern
² WHO Europe (2021): Health Literacy Population Survey 2019-2021 (HLS19)
Das WHO Kollaborationszentrum für Health Literacy an der TUM School of Medicine and Health, Department of Health and Sport Sciences, wurde im Dezember 2023 gegründet und wird durch Prof. Dr. Orkan Okan geleitet. Das Kollaborationszentrum führt u.a. Gesundheitskompetenzforschung für die WHO durch und berät sie mit seiner wissenschaftlichen Expertise bei der Entwicklung von Programmen und Strategien zur Förderung der Gesundheitskompetenz in den WHO Mitgliedsstaaten.
Linktipps: